IV. Längs und quer und rundherum – Auf den Spuren der Geschichte der Stadt in vier Spazier­gängen1: Von Nord nach Süd durch die Mitte

von Georg Opdenberg

Der Spaziergang, längs durch Krefeld, von Nord nach Süd, beginnt nicht an der Nordstraße, sondern an der Geldernsche Straße, die so gar nicht zu dem Wallgeviert passt. Diese Straße ist Teil der uralten Nord­Süd Verbindung, an der vor mehr als tausend Jahren Krefeld entstand. Nördlich der heutigen Nordstraße, zu der wir jetzt gehen, war zu der Zeit nicht mehr nur freies Feld. Die Wohnungsnot in der überfüllten und geschäftigen Stadt war damals so groß, dass schon im frühen 18. Jahrhundert dort kleine Häuserzeilen ent­standen, wie das Steckendorf entlang der Terrassenkante und das Drießendorf rund um den Drießenhof.

Bevor wir auf den Friedrichplatz gehen, werfen wir noch einen Blick in die Münkerstraße. Die große, steinerne Turm­windmühle, an der alle Straßen zusam­menliefen, war eine Landmarke und stand an der Nordseite des heutigen Friedrichs­platzes. Bei der Planung der sechsten Er­weiterung der Stadt seit ihrer Gründung zog Adolf von Vagedes 1819 mit der heu­tigen Nordstraße auch eine Grenze. Zum ersten Mal wurde bei dieser Erweiterung nach langem Überlegen auf den Bau einer Stadtmauer verzichtet. An den anderen drei Seiten der Stadt, am West­, Süd­ und Ostwall, die nichts mit irgendwelchen, die Stadt befestigenden Wällen zu tun hatten, verzichtete man dann auch letztendlich auf offene Gräben für die Entwässerung der Stadt. Die „Wälle“ sollten als Freifläche eine Grenze bilden zwischen der geordnet bebauten Stadt und dem ungeordneten Umland mit Gärten und landwirtschaftlich genutzten Flächen.

Karte 4: Längs durch Krefeld und quer durch die Geschichte

Die Anlage des Friedrichsplatzes als Kernstück in der geplanten Nordstadt war deshalb nicht einfach. Hinzu kam, dass die Friedrichstraße als Hauptachse der Stadt verlängert und weiter nach Norden geführt werden sollte und somit die alte Ost-­West Verbindung nach Moers kreuz­te. Die Alte Landstraße nach Geldern und der Münkerpfad zum Steckendorf soll­ten in diesem Bereich überplant werden. Adolf von Vagedes war schon zu Beginn der Planung November 1817 der Meinung, „die Windmühle gegen Norden sollte fort­geräumt werden, da sie als Schneidungs­punkt zweier Straßen unmittelbar vor ei­nem volks-­ und gewerbereichen Ort eine höchst polizeiwidrige Anlage ist.“ 2

Früher gehörte der Wind dem Landes­herrn, und deshalb durften Windmühlen nur mit seiner Genehmigung gebaut wer­den, so dass die Stadt sich genötigt sah sich an Seine Majestät persönlich zu wen­den. Um die Mühle zum Abbruch zu erwer­ben, musste die Stadt aus dem Verkauf der Materialien und der Bauplätze die Summe von 5.040 Talern als Ablösung an den Do­mänen – Fiskus entrichten. Die Eigentümer verkauften für 2.000 Taler ihre Turmwind-­ und Rossmühle an einen Unternehmer. Der wiederum verpflichtete sich, nach Überweisung des „Gnadengeschenkes“ und derjenigen Grundteile, welche von den anschließenden öffentlichen Wegen nach dem Bauplan „disponibel“ wurden, den Abbruch vorzunehmen und die 5.040 Taler an den Domänen – Fiskus zu bezahlen. Im Juli 1834 wurden die Turmwind­ und die Roßmühle abgebrochen. 1837 wurde mit dem Neubau der Straße begonnen. Hierfür eingesetzt wurden brotlos gewordene Sei­denweber, um ihnen Beschäftigung und Verdienst zu bieten.

Die erste Planung, die aber nicht verwirk­licht wurde, sah in der Mitte des Platzes eine Pyramide vor. Die freie Fläche war, wegen der sich hier kreuzenden Land­straßen, verschlammt und aufgeweicht und für Fußgänger kaum mehr passierbar. 1853 entstand auf Antrag und Kosten der Bürgerschaft nach dem Plan des bekann­te Gartenarchitekten Maximilian Friedrich Weyhe, der in Düsseldorf die Königsallee gestaltet hatte, der Platz mit dem Rondell in der Mitte und den acht kleinen Inseln. Hier wurde im Gedenken an die Gefallenen und den Sieg des Krieges 1870/71 gegen Frankreich 1875 eine Germania aufgerich­tet (Abb. 1). 1942 wurde sie eingeschmol­zen für den neuen Krieg. Heute schmückt ein Springbrunnen, gestiftet zur 600­Jahr­feier, den Platz.

Abb. 1: Die Germania, das Kriegerdenkmal zu Ehren der im Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 gefallenen Krefelder Soldaten, errichtet im Juni 1875

Die vormalige Reichsbank und heutige Landeszentralbank in der Nordwestecke des Platzes galt vor dem Krieg als eines der qualitätsvollsten Gebäude der Stadt, dessen Modell auf mehreren Kunstaus­stellungen gezeigt wurde. 1906 eröffnet, übertraf der mächtige kubische Bau die umliegenden Gebäude an Größe. Die deut­sche Reichsbank war bemüht, das Reich auf anspruchsvolle Art zu repräsentieren und deswegen sind ihre Gebäude allge­mein auch im Stil der Renaissance gehal­ten, hier aber durch den Einfluss der Kölner Dombauhütte und zu Gunsten gotischer und modischer Formen etwas abgewan­delt. Heute wirkt dieser Stilmix befremd­lich. Die benachbarte Färber-, Woll- und Fabrikstraße verweisen auf die Fabriken der Familie von der Leyen, die hier seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einen Großteil ihrer Produktionsstätten hatten.

Über den heutigen Nordwall – ursprüng­lich war dies die Meursische Straße – und die Färberstraße gehen wir bis zur Gartenstraße und werfen von dort aus einen Blick auf das ehemalige Kaiserliche Postamt 1 am Ostwall (Abb. 2).

Abb. 2: Kaiserliches Postamt auf dem Ostwall um 1900

Erbaut wurde es 1891­ – 94 vom kaiserlichen Post­baurat Paul Sell. Der repräsentative Bau ist an die italienische Renaissance ange­lehnt. Die 15­-achsige Hauptfront hatte ur­sprünglich fünf Eingänge, drei in der Mitte für das Publikum und zwei Seiteneingän­ge für die Dienstwohnungen der Vorsteher des Post­ und Telegrafenamtes im zweiten Obergeschoss. Die in Kupfer eingedeckte Helmkuppel wurde nach dem 2. Weltkrieg nicht wieder aufgebaut.

Über den Ostwall gehen wir ein paar Schritte weiter Richtung Bahnhof und wer­fen einen Blick in Richtung Jungfernweg auf das 12 x 12 m große Mosaik des Krefelder Künstlers August Pigulla am ehema­ligen Hauptzollamt. Es entstand – wie vie­le weitere Arbeiten in der Stadt – aus der freiwilligen Verpflichtung, bei öffentlichen Bauten ein bis zwei Prozent der Bausum­me für „Kunst am Bau“ einzuplanen. Diese Maßnahme sollte nach dem 1. Weltkrieg die Not der darbenden Künstler lindern.

Nach ein paar weiteren Schritten biegen wir rechts auf den Theaterplatz ein. Ursprünglich war dieser Platz vollständig bebaut. Aber schon vor dem 1. Weltkrieg wurde ein Großteil der Häuser abgerissen, um Raum für ein Theater zu schaffen. Der Zeit und der Inflation geschuldet, entstand jedoch 1924 mit dem Parkhof ein großzü­giges Konzertcafé mit mehr als 250 Plät­zen. Bauherr war Gerhard Anton Stübben, der in Amerika sein Glück und viel Geld gemacht hatte. Als nach 10 Jahren der Pachtvertrag mit der Stadt auslief und die Nationalsozialisten sich für die Baulichkei­ten interessierten, ließ er kurzerhand den Bau abreißen und nutzte das Material für den Neubau der Gaststätte „Grenzstein“ an der Oppumer Straße.

Nach dem 2. Weltkrieg begannen eng­lische Besatzungstruppen 1946 an der Nordseite des Platzes mit dem Bau eines Garnisonstheaters. Nach kurzer Zeit aber stellten sie die Bauarbeiten schon wieder ein. 1949 erhielt der Krefelder Architekt Eugenie Bertrand den Auftrag, unter Ein­beziehung des unvollendeten Vorbaues einen provisorischen Theaterneubau zu planen. 1951 war Baubeginn, im Oktober 1952 wurde es eröffnet. Nach einem län­geren Wettbewerbsverfahren erfolgte der Um-­ und Ausbau nach Plänen von Profes­sor Gerhardt Graubner. Januar 1963 war Wiedereröffnung.

Schon zwei Jahre vorher wurde nach zehnjähriger Planung die westlich angren­zende Stadtbücherei fertiggestellt. Vom städtischen Hochbauamt war sie geplant für einen Bestand von 86.000 Büchern und mit einem Vortragssaal im Obergeschoss. Diesen Bau konnte man durchaus als ein Gesamtkunstwerk ansehen, zumal mit den beiden Keramikreliefs von Hubertus Brouwer an der Außenwand, über die viel diskutiert worden war. Die Mosaikporträts von Dichterfürsten auf dem Boden des Atriums desselben Künstlers blieben dagegen unbeachtet. Etwa 50 Jahre später musste dieses Bauwerk und die mit ihm verbundene Kunst einem größeren, mo­derneren und an die neuen Medien ange­passten weichen.

Das Seidenweberhaus auf dem Platz, erbaut 1972­76, soll auch noch kurz, an­gesprochen werden. Raum hierfür wurde geschaffen durch den Abriss einer ganzen Häuserzeile. Als Bürgerhaus und Zentrum städtischen Lebens mitten in der Innen­stadt, mit Informationszentrum, Läden und Restaurant, mit drei Sälen – der größ­te fasst etwa 1.200 Personen – mit einem großzügigen Foyer und einer Tiefgarage mit fast 600 Parkplätzen sollte es die gute Stube der Stadt sein. Rückblickend muss gesagt werden, dass das Experiment an dieser Stelle, in diesem Bau und in der For­mensprache der 1970er Jahre und dem gleichmäßigen Sechseck, vom Grundriss bis zum Teppichboden verpflichtet als An­spielung auf die 600­Jahrfeier der Stadt, nicht dauerhaft gelungen ist. Ursprüng­lich freistehend für den Sprödentalplatz geplant, war es hier nun ganz rückwärts auf den Platz ausgerichtet. Mit verdeck­ten Eingängen, verwinkelt bis in die letzte Ecke und einer Anmutung und Oberflä­che, die eher an die Artilleriebunker des Westwalls erinnert und der Stadt mit einer großen Tiefgarageneinfahrt die Kehrseite zeigt, hat dieses Gebäude keine große Zu­kunft mehr.

Wir queren jetzt den Theaterplatz und folgen der Carl-Wilhelm-Straße bis kurz vor ihrer Kreuzung mit der Friedrichstraße. Das 1766 erbaute Haus Floh, vor dem wir nun hier stehen, ist nach den Zerstö­rungen des 2. Weltkrieges das letzte Bei­spiel für den Stil und die Pracht in der fünf­ten Auslage (Stadterweiterung). Natürlich war es – wie alle anderen Gebäude auch – ausgebrannt, wurde aber wegen seiner Bedeutung zumindest äußerlich in alter Pracht wieder aufgebaut. Deshalb hierzu noch schnell ein paar Sätze. Das Haus ist benannt nach der mennonitischen Familie Floh, der Nachfolgerin der Familie von der Leyen. Im Rahmen der Stadterweiterung entstand mit der Friedrichstadt ein neuer Stadtteil, in dem, wie schon in den zuvor entstandenen Auslagen, an der Hauptstraße sich vornehmlich die Patrizier ­Familien auf den großen Grundstücken niederlie­ßen. Ganz besonders markant waren die spätbarocken Eckbauten.

Die Mittelachse des Floh‘schen Hauses wird durch eine Wappenkartusche betont. Das Familienwappen der von der Leyens zeigt einen Schieferfelsen, den eine ver­goldete Krone überragt. Schiefer wird hier auch Lei genannt, der Dachdecker hieß auch Leiendecker. Der Familienname der von der Leyens könnte man nun mit „die vom Schieferberg“ übersetzen (Abb. 3).

Abb. 3: Friederich der Große zu Besuch bei der Familie von der Leyen, 1763

Hier stand auch das Stadttor der dritten Auslage von 1738. Eine Nachbildung des dort angebrachten preußischen Adlers und der dazugehörenden Widmung wurde gegenüber an der ehemaligen Volksbank in den 1950er Jahren angebracht.

Richtung Westen, am Ende der Carl-Wilhelm-Straße, ist das Stadtpalais zu se­hen, das Konrad von der Leyen sich von dem Krefelder Architekten Martin Leydel ab 1791 hat bauen lassen und zu dem wir jetzt hingehen (Abb. 4). Es wird von den Krefeldern „gemeiniglich hier das Schloss genannt“. 3 Da es in der Stadt für ein der­artiges Gebäude keinen geeigneten Platz mehr gab, wurde es mit seinem großen Garten kurzerhand in die Straßenachse, jedoch hinter die Stadtmauer gesetzt.

Abb. 4: Kriegszerstörtes Rathaus am Von-der-Leyen-Platz

Der Reichtum in der Familie von der Leyen war ungeheuerlich. In allen „Fabriksa­chen“ musste der Magistrat ihre Meinung einholen. Mennonitische Bescheidenheit galt für sie nicht mehr. Schlosser und Schreiner durften bei Strafe keine Band­webstühle reparieren, die nicht den von der Leyens gehörten. Aus dem Monopol wurde ein Oligopol, das erst Ende des 18. Jahrhunderts durch die französische Herr­schaft gebrochen wurde. Als der Stern der Familie von der Leyen wieder auf ein nor­males Maß gesunken war, kaufte 1860 die Stadt Krefeld dieses Haus, um es als Rat­haus zu nutzen. Der überbaute alte Stadt­graben sorgte später mit Setzungen in den Fundamenten für größeren Ärger.

1891 – die Stadt hatte seit November 1887 mittlerweile mehr als 100.000 Einwohner und galt daher als Großstadt – bekam „das Schloss“ einen Nordflügel im Stil der Neo­renaissance. 1934­1936 kam ein südlicher Flügel im monumentalen Stil des Dritten Reiches mit Muschelkalkverkleidungen hinzu. Nach dem verheerenden Luftangriff von 1943 blieben von dem alten Schloss nur noch die Umfassungsmauern und die Säulen erhalten. Im Terrazzoboden des Nordflügels von 1891 sieht man noch die ausgebesserten Bombenschäden. Die 1950er Jahre erkennt man in dem nach Süden anschließenden Rasterbau und die Neuzeit in dem jüngsten Erweiterungsbau hin zur Gartenstraße. Die fünf Stilrichtun­gen, die dem Rathaus in gut 200 Jahren sein Aussehen verliehen haben, können unterschiedlicher nicht sein.

Auch an den Fußböden sind die unter­schiedlichen Ausbauphasen ablesbar. Bemerkenswert ist der Boden im Foyer, dem ältesten Teil des Rathauses, direkt hinter den sechs Säulen. Er entstand in den frühen 1950er Jahren. Das Mosaik stammt von Studenten der ehemaligen Werkkunstschule unter der Leitung von Gustav Fünders.

Über die Gartenstraße gehen wir nun zum Westwall, der hier noch die Spuren des Parks hinter dem Schloss der von der Leyens erkennen lässt. Hier ist die Stil­abfolge der Rathauserweiterungsbauten noch einmal deutlicher zu sehen. Gegen­über, am Westwall Nr. 124 steht ein kleines Stadthaus in geschlossener Bauweise mit Wohnungen und Ladenlokal, in dem der Kunstverein residiert und das sich auffällig von der hier üblichen klassizistischen Bau­weise unterscheidet. Dieses Haus, das ursprünglich um die Ecke auf der Sankt-Anton-Straße stand und in den 1970er Jahren an den Westwall transloziert worden ist, hätte Architekturgeschichte schreiben können.

Der Architekt Carl Buschhüter, von dem es in Krefeld zahlreiche Häuser gibt, war ein stadtbekannter Gesellschafts-­ und Le­bensreformer, Schriftsteller und glühender Antisemit. Bekannt ist er den Meisten we­gen seiner „bodenständigen“ Villen, die er am liebsten aus dem bauen wollte, was sich auf dem Baugrundstück fand: Lehm, um daraus Ziegel zu brennen, und das Holz für das Fachwerk und den Dachstuhl. Hier aber steht nun ein Gebäude mit ei­nem Eisenfachwerk im Obergeschoss und Wänden aus Glas und Bimssteinplatten. Auf stabilisierende Streben konnte er ver­zichten, da das Eisengerüst nicht tragend war, sondern an den seitlichen Giebelwän­den aufgehängt wurde. Das alles nur, um auf dem kleinen Grundstück, durch eine minimierte Wandstärke, mehr Raum zu gewinnen.

Wir queren nun die nach St. Tönis führen­de Sankt-Anton-Straße, mit einem Blick nach links zum blauen Giebel und dem Hochhaus am Bleichpfad, das wegen der Entlüftungsrohre auch Mississippi Damp­fer genannt wird. Und nun auch noch, bevor die Ampel wieder auf ROT springt, schnell ein Blick nach rechts zu den Bäumen vor dem Straßenbahndepot der Stadtwerke Krefeld an der Ecke Weeserweg. Dies ist die ganze Breite der Herrlichkeit Krefeld, gerade einmal drei Kilometer umfassend. Links die Terrassenkante, hinter der das nasse Bruch begann und rechts ehemals die Landwehr an Schicksbaum.

Weiter geht es nun bis zur Kreuzung an der Dionysiusstraße. Der Blick nach rechts, nach Westen, zeigt uns die mit regelmäßi­gen rechtwinkligen Häuserblöcken im 19. Jahrhundert bebaute Stadt bis zum Ring, die ehemalige Eisenbahntrasse, die Kre­feld bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts umschloss. Nun wenden wir uns nach links zur nur wenige Schritte entfernten Dionysius Kirche (Abb. 5).

Abb. 5: Dionysiuskirche am Ende der Rheinstraße um 1880

Ursprünglich sollte sie hier gar nicht stehen, doch der, von konfessionsfreiem Denken beherrsch­te „Alte Fritz“ (Friedrich der Große) erlaub­te den Katholiken und Lutheranern, sich eine Kirche bauen zu dürfen. Aber in der Stadt fand sich kein geeigneter Platz mehr. Irgendwer hatte immer irgendetwas dage­gen einzuwenden. Die Lösung des Pro­blems mündete in den Plan, „die Kirche … zur Zierde … der Stadt … außerhalb der Stadtmauer“4 zu bauen, verbunden natürlich auch mit der Auflage, diese mit Graben und Mauern zu umgeben.

Praktischerweise wurde aus dieser Idee eine vierte Auslage mit Platz für den Bau einer lutherischen Kirche, Schule und Pfarrhaus an der Lutherischen Kirchstraße, und für die Katholiken das glei­che und dazu noch ein Friedhof auf dem heutigen Dionysiusplatz. Der Auflage, mit dieser Stadterweiterung gleichzeitig noch ausreichend preiswerten Wohnraum zu schaffen, kam man auch nach. Zugleich konnte ein Teil der Altstadt in den nun mo­dernen Stadtgrundriss an der Westseite mit einbezogen werden. Die neue St. Dio­nysius Kirche – die alte Kirche hatten ja die Reformierten übernommen – wurde zu ei­nem städtebaulich gelungenen Abschluss nach Westen verpflichtet, entgegen aller Tradition: Ex oriente lux, aus dem Osten kommt das Licht, und im Osten war übli­cherweise der Chor. Nun sollte der Turm im Osten als Eingang verpflichtend sein und sich zur Stadt hin öffnen. Revolutio­när war damit auch die Ausrichtung des Altars nach Westen. Die erste bescheide­ne Backsteinkirche von 1753 wurde 1840­ – 1843 durch Anfügen eines dreischiffigen Querhauses in der Fläche fast verdoppelt. Der alte, barocke Turm wurde 1894 durch den jetzigen im neugotischen Stil ersetzt. Ein beherrschendes Element im Innern sind die 20 ionischen Säulen mit ihrem gelben Stuckmarmor und die hohen Bo­genfenster mit den 1981­1983 eingefügten Fenstern von Hubertus Spierling.

Die an die Stadtmauer angelehnte alte Klosterkirche St. Johann Baptist, die nach der Reformation den Katholiken als Ersatz für die, von den Reformierten übernomme­ne nun „Alte Kirche“ diente, ist im Boden vor der ehemaligen Dresdner Bank – heute das Standesamt – mit Eisenstegen ange­zeigt. Ebenso die Lage des mittelalterli­chen Eckturms am nordwestlichen Rand der Stadtbefestigung.

Hier wäre es auch angezeigt, kurz etwas über Krefeld und die Preußen zu sagen, beziehungsweise über die Beziehungen der Familie von der Leyen nach Berlin. Nach dem Tod Wilhelm III. von Oranien – König von England – am 19.3.1702, beanspruchte Friedrich Wilhelm I., der preu­ßische König, die Grafschaft Moers und die Herrlichkeit Krefeld, was er letztend­lich auch durchsetzte. In Krefeld gelangten brandenburgisch – preußische Truppen versteckt unter Stroh auf einer Karre in die Stadt und nagelten das brandenburgische Wappen ans Rathaus und an die Burg Kra­kau. Die Moerser, verstärkt durch eine nie­derländische Garnison, leisteten noch 10 Jahre Widerstand.

Friedrich Wilhelm I., der spätere Soldaten­könig, kümmerte sich imGegensatz zu den Oraniern auch um alle praktischen Berei­che in der Stadt. Der Aufbau eines starken preußischen Heeres in kürzester Zeit war mit der gewaltsamen Werbung von Sol­daten verbunden. Nach der Flucht vielerwehrfähiger Untertanen, besonders auch Mennoniten, denen ihr Glaube den Dienst mit der Waffe verbot, änderte der König die brutale Rekrutierungspolitik. Gegen ei­ne jährliche Zahlung von 200 Reichstalern waren die Bewohner der Stadt von einer gewaltsamen Werbung befreit. „Crefeld und die dasigen Manufacturen sehe ich als Kleinod an, von welchem die Werber weg­bleiben müssen“ sagte bei einem seiner Besuche Friederich II.5 Dieser Umstand soll, so sagen Einige, zu dem Ausspruch geführt haben: es gibt Gute, Böse und Krefelder.

Der König besichtigte auch die Manufaktu­ren und lobte bei Tisch Bier, Schwarzbrot und Käse. Den Mennoniten versprach er ei­nen Prediger und der Stadt gute Konditionen für eine dritte Auslage. Ihm folgte auf den Königsthron sein Sohn Friedrich II., später der „Alte Fritz“ und noch später „der Große“ genannt, der sich wie sein Vater um alles kümmerte. Seine sprichwörtliche Toleranz war mehr vom Staatsinteresse bestimmt, so auch die Genehmigung zur öffentlichen Religionsausübung der Katholiken, deren Anteil an der Stadtbevölkerung schon weit mehr als 50% betrug. An den Rand eines Behördenschreibens vom 6.4.1743 setzte er handschriftlich den Vermerk: In meinem Land seien alle Religionen frei 6.

Der siebenjährige Krieg brachte Krefeld viel Elend, machte aber die Stadt auch durch die Schlacht an der Hückelsmay am 23.6.1758 weltweit bekannt. Der Krieg endete mit dem Frieden von Hubertus­burg am 15.2.1763. Vier Monate später war Friedrich II. dann in Krefeld und wieder bei den von der Leyens zu Gast, zusam­men mit Prinz Ferdinand, dem Sieger der Schlacht bei Krefeld. Den Besuch nutzten die von der Leyens für die Genehmigung einer fünften Auslage, durch die wir eben gingen, die dann ab 1766 auf Wunsch des Königs unter der Leitung der von der Leyens auch realisiert wurde.

Der Rheinstraße folgend, stoßen wir bei der Kreuzung mit der Hochstraße wieder auf unsere uralte Nord­-Süd-Verbindung, an der Krefeld entstanden war. Im Boden ein­gelegt, sehen wir auch wieder die Eisen­stege, mit denen hier das mittelalterliche Niedertor angezeigt wird. Ins Auge fällt, dass das Tor nicht zu dem Straßensys­tem passt, durch das wir bisher gegan­gen sind. Der Blick nach rechts, in die Altstadt, aber zeigt deutlich, wie das Tor auf die Hauptstraße innerhalb der Stadt ausgerichtet war. Darüber hinaus ist gut zu sehen, dass die Straßen dort krumm und mit wechselnden Breiten noch die alte, im Mittelalter gewachsene Struktur beibehalten haben – trotz aller Zerstörun­gen und Modernisierungen in den letzten Jahrhunderten.

Wir gehen nun ein paar Schritte in die Stadt hinein, biegen aber gleich wieder links in die Tückingsgasse ein, die zeigt, wie winzig klein die Stadt war; denn am Ende der Gasse, keine 40 m weit, stand schon die Stadtmauer. Dort biegen wir links in die Mennoniten-Kirch-Straße ein und werfen einen kurzen Blick auf das reich verzierte kleine Tor, das ehemals der Zugang zur Mennoniten­ Kirche war. Die Genehmigung für den Bau in dieser äu­ßersten, versteckten Ecke der Neustadt war nur unter dem Vorbehalt erteilt wor­den, dass dieses „anstößige“ Gotteshaus nicht öffentlich sichtbar war. Man kann es gut mit den am Ende der 1970er Jahre entstehenden „Hinterhof­Moscheen“ ver­gleichen.

Wir gehen die wenigen Schritte weiter bis zur Rheinstraße, biegen nach rechts ab, und unser Blick geht über Ostwall und Rheinstraße hinweg in die schnurgerade Uerdinger Straße, die ehemalige „Rue National No. 1“, die von Paris über Aachen und Krefeld bis an den Rhein führte. Wir gehen wenige Schritte in die Königstraße. Die kleine Hirschgasse linker Hand zwi­schen König­ und Lohstraße zeigt noch den Verlauf der neu erbauten Stadtmauer von 1692 und ist benannt nach der ältes­ten Krefelder Apotheke, gegründet vor 1740. Rechter Hand ist nun die Menno­niten­Kirche sichtbar. Die alte Bebauung, die sie früher den Blicken entzog, wurde ein Opfer des Bombenkrieges. Auf der glä­sernen Abgrenzung gibt es jede Menge Informationen zu den Mennoniten.

Schon 1678 wurden für eine Erweiterung nach Osten Markierungspfähle einge­schlagen. Aber die Finanzierung scheiter­te, auch war die vorgesehene Fläche zu klein bemessen. 1692 endlich wurde an der Ostseite der Stadt die mittelalterliche Stadtmauer abgerissen und knapp 100 m weiter östlich eine neue aufgebaut. Die Königstraße, benannt nach Wilhelm III. von Oranien, Statthalter der Niederlande und König von England, war die Haupt­achse der ersten Auslage. In deren Mitte setzte man ein neues Tor, das Linner Tor. Noch heute heißt die hierfür angelegte Straße Neue Linner Straße. Die Alte Linner Straße, nicht dem Diktat des rechten Winkels verpflichtet, ist in Richtung Haupt­bahnhof auf der gegenüberliegenden Sei­te des Ostwalls noch zu sehen. Die Steine für das Tor – ebenfalls hier mit Eisenste­gen im Boden angedeutet (siehe Infotafel vor Ort) – und die nicht mehr so massiv ausgeführten, beispielsweise mittelalterli­chen Mauern durften von der niedergeleg­ten Burg und Festung Krakau genommen werden. Die schnurgerade Hauptstraße mit den, von ihr rechtwinklig abgehenden Nebenstraßen wurde zur „Richtschnur“ für alle weiteren Auslagen. Die Grundstücke waren rechtwinklig angelegt und mit Rei­henhäusern bebaut, das sparte Material und Platz.

Wir biegen nun in die Angerhausenstraße ein und gleich darauf wieder links in die Mennoniten-Kirch-Straße. Dieser mitt­lere Abschnitt hieß früher Juden-Kirch-Straße. Im Straßenbelag rechts ist das Grundstück noch angedeutet, auf dem das 1764 erbaute Bethaus stand, und an der Wand darüber hängt eine kleine Infotafel. Im französischen Kaiserreich, zu dem Kre­feld fast 20 Jahre bis 1815 gehörte, wurden 13 kirchliche Verwaltungsbehörden, soge­nannte Konsistorien geschaffen, jeweils ei­ne in der Stadt des Departements mit dem größten jüdischen Bevölkerungsanteil. Für das Roer­Departement, in dem gut 5.500 Juden gezählt wurden, war dies Krefeld. Hier lebten 1809 160 Juden und somit war Krefeld bis 1847 Oberrabbinat. Der zwei­te Oberrabbiner Dr. Baruch Lion Ullmann (1836-­1843) machte sich mit der ersten kommentierten vollständigen Übersetzung des Korans in deutscher Sprache einen Namen weit über die Rheinlande hinaus.

Hier ist auch der passende Ort, auf den Krefelder Mennoniten und Bankier Her­mann von Beckerath hinzuweisen, der in einer Sitzung des Vereinigten Landtags durch seine Aussage „meine Wiege stand am Webstuhl meines Vaters“, reichsweit bekannt wurde7. Er, der auch in engem Kontakt zur israelitischen Gemeinde stand, stritt 1847 vor dem preußischen Landtag heftig für die völlige Gleichstel­lung von Juden und Christen, wie auch schon vier Jahre vorher auf dem Rheini­schen Provinzial-­Landtag. In beiden Fäl­len jedoch war sein Kampf vergebens. Der König entschied, dass es „nicht Unser Wil­le sei, die Juden … unseren christlichen Untertanen völlig gleich zu stellen.“ 8

Auch an der Kreuzung mit der Evangelische-Kirch-Straße halten wir kurz inne. Hier führte einmal der Weg, lange vor der Stadtgründung, von den großen Bau­ernhöfen an der Bruchkante zur Kirche in dem Dorf Krefeld, der dann um 1400 mit der Stadtmauer überbaut wurde. Am Straßenverlauf ist das leicht zu sehen. Rechts zur Innenstadt geht ein krummer Weg, nach links in die Neustadt zur Königstraße führt ein gerader Weg. Vor ein paar Jahrzehnten wurden hier Rohrarbei­ten durchgeführt. Das war die Gelegen­heit, ein wenig tiefer zu graben. Reste der Stadtmauer entdeckten wir nicht, aber ei­ne mehrere Zentimeter dicke Schicht von rotem Staub. Das war wohl der Abrieb der hier gelagerten Ziegelsteine für den Bau der Stadtmauer, denn darunter fand sich noch der mit großen Kieseln befestigte mittelalterliche Weg.

Es geht weiter und kurz vor der Einmün­dung in die Marktstraße sehen wir den im Boden eingelassen Stein, der an die 13 Familien erinnert, die 1683 von hier mit der Concord als erste geschlossene Grup­pe aus Deutschland nach Pennsylvania in Amerika auswanderten und dort German­town, heute ein Stadtteil von Philadelphia, gründeten. Nicht alle waren eingesessene Krefelder, einige stammten auch aus Glad­bach, Kaldenkirchen oder Waldniel. Ge­meinsam aber war allen, dass ihnen wegen ihrer religiösen Gesinnung das Leben sehr schwer gemacht wurde. Die meisten von ihnen waren auch miteinander verwandt oder verschwägert. Einige sagen, es wa­ren Mennoniten, andere, es waren Quäker. Beide Gemeinschaften betonten ihre reli­giöse Eigenständigkeit; beide lehnten Erb­sünde, Kindstaufe und Kriegsdienste ab. In Krefeld war jahrzehntelang schon eine Mennoniten-­Gemeinde ansässig und es gibt Beispiele für den Übertritt von der einen in die andere Glaubensgemeinschaft.

Angeführt wurde die gut 50 Personen star­ke Gruppe von Franz Daniel Pastorius. Er war es auch, der am 18.4.1688 in Ameri­ka die erste Schrift gegen die Sklaverei aufsetzte, die auch von einigen Krefeldern unterschrieben wurde. Der Kernsatz ist: „… dagegen, dass man Menschen hier­her bringt, sie raubt und gegen ihren Willen verkauft, erheben wir Einspruch! In Europa müssen Viele Unterdrückung erleiden, des Gewissens halber; hier unterdrückt man Menschen von schwarzer Hautfarbe.“9 In Amerika begründeten die Krefelder das Leinengewerbe. In ihrem Stadtwappen führten sie neben einer Weintraube auch eine Flachsblüte und ein Weberschiffchen. Ein Ururenkel von Tönis Kunders, ein An­gehöriger der 13 Familien, begründete 1839 mit der Cunard­Linie die regelmäßi­ge Dampfschifffahrt über den Atlantik. Der Kontakt zu Krefeld ließ auch nie nach. Hier sei als Stichwort nur die „Quäkerspeisung“ genannt: Haferflocken und Milchpulver für Schulkinder nach dem 1. und auch nach dem 2. Weltkrieg.

An der Marktstraße wenden wir uns nach links, überqueren die Königstraße und stehen auf dem Platz An der alten Synagoge, von der bedauerlicherweise nichts mehr zu sehen ist. Das alte Bethaus war trotz Erweiterung viel zu klein geworden. 1846 wurde der Bau einer neuen Synagoge genehmigt, die 1853 eingeweiht werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt war die jüdi­sche Gemeinde schon auf gut 600 Seelen angewachsen. Diese neue Synagoge war mit ihrer hohen Kuppel eine Zierde der Stadt, bis sie dem braunen Terror zum Op­fer fiel (Abb. 6). Ein Teil ihres Grundrisses – darauf weist eine Tafel hin – ist im Stra­ßenboden angezeigt. Das Mahnmal da­vor erinnert an den sechsmillionenfachen Mord während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

Abb. 6: Synagoge Petersstraße/Ecke Marktstraße kurz nach dem Umbau und der
Vergrößerung im Jahr 1903

Über die Marktstraße gehen wir nun zu­rück bis zum Neumarkt. Hier stand das alte Obertor, der Eingang in die mittelal­terliche Stadt. 1714 abgebrochen, wurde diese Lücke nun zu einem Eingangstor in die Neustadt, die zweite Auslage, und die erste in preußischer Zeit. Im Boden ist das abgebrochene mittelalterliche Stadttor angezeigt. Die Fläche vor dem Tor wur­de zu einem großen „neuen Markt“. Die Hauptachse der Neustadt war mit großen Grundstücken für die repräsentativen Bau­ten der Kaufleute vorgesehen und parallel dazu die König– und die Mühlenstraße als Hinterstraßen für die kleineren Häuser der Weber und Handwerker. Die Querachse bildete die Dreikönigenstraße, benannt schon vor mehr als 200 Jahren nach einer Gaststätte. Von der ursprünglich großzü­gigen Planung blieb nicht viel übrig. Auf allen drei Straßen wurden meist doppelt so viele Häuser gebaut als geplant. Der Neumarkt als Platz für feierliche Aufzüge verdrängte nach und nach den mittelalter­lichen Schwanen Markt. Den Abschluss dieser Auslage bildete dann das „Fischeler Thor“ im Süden, wohin wir gleich kommen werden.

Bevor wir nun in die Dreikönigenstraße einbiegen, werfen wir noch einen kurzen Blick nach links. In einiger Entfernung sehen wir die Grüne Kuppel des Gottes­hauses der Altkatholiken, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts von der papsttreu­en römisch­katholischen Kirche getrennt hatten. Noch weiter hinten ist das Ende des schachbrettartigen Grundrisses im Osten der Stadt erkennbar. Wenn wir uns jetzt nach rechts wenden, zeigt sich das gleiche Bild. Auch hier folgt nach einiger Entfernung die Straße letztendlich einem alten Feldweg.

Wir biegen nun rechts in die Dreikönigenstraße ein und gehen bis zur Mühlenstraße, die als Mittelpunkt des gleichnamigen Bordellviertels weit über die Grenzen der Stadt hinaus einen zweifelhaften Ruhm genoss. In einem Schreiben an den Ober­bürgermeister wurde 1899 beklagt, dass: „… gegen 80 Dirnen zu je 2­3 mit einem Zuhälter in ungefähr 30 hüttenartigen Häu­sern untergebracht“ sind und diese: „… schamlos in den offenen Fenstern liegend oder in der offenen Haustür stehend die Vorübergehenden zum Eintreten auffor­dern“. Die Besitzer dieser Häuser bezogen eine wucherhafte Miete und die anderen Eigentümer zogen es vor, unter erhebli­chen Opfern „…der bösen Nachbarschaft zu fliehen“. Darüber hinaus wurde „nicht konzessioniertes Schankgewerbe“ be­trieben und nach Betäubung Angelockte ausgeraubt 10.

Gut 10 Jahre später wurden fast alle Ge­bäude abgerissen und nach dem „Bre­mer Muster“ durch schöne neue kleine Bordellhäuser mit je einer Tür, einem Fenster und einem kleinen Kontakthof ersetzt. Gut 50 Jahre später begann das ganze Spiel von neuem, als die einst­mals schönen Jugendstil­-Puffhäuschen in die Jahre gekommen waren. Fast alle Häuser in dem Viertel waren so ruinös, dass sogar die zahlreichen Gastarbeiter, die hier preiswerten Wohnraum gesucht hatten, in Scharen auszogen. Dann, Mitte der 1970er Jahre, wollte man dort allesdem Boden gleich machen. Jetzt endlich regte sich der Bürgerunwille. Kläger ge­gen den Abbruch scheiterten vor Gericht wegen „mangelnder Klageberechtigung“, gleichzeitig aber hielt das Gericht der Ver­waltung „schwere Mängel vor, die bei ei­nem berechtigten Kläger zum Erfolg der Klage geführt hätten“ 11. Der Kampf, der hier ausgefochten wurde, trug auch zur Verabschiedung eines neuen Denkmal­schutzgesetzes in NRW bei.

Weiter geht es nun bis zur Stephanstraße. Der kleine Platz vor uns, wurde erst vor Kurzem nach Anna Tervoort benannt. Die Hülser Bäuerin hatte in den letzten Kriegs­monaten selbstlos einer Jüdin das Überle­ben ermöglicht. Der Name passt auch gut zu dem gegenüber liegenden Spielplatz, der Anne Frank gewidmet ist. Schade ist es, dass hierfür die aus den 1920er Jahren stammenden Hochgarage, eine der ersten in Deutschland und ein anerkanntes Bau­denkmal, Anfang der 1980er Jahre abge­rissen wurde (Abb. 7-8). Das kleine Haus mit dem Fachwerkgiebel, um die Ecke von Wiedenhof- und Stephanstraße ist als einziges übriggeblieben aus der ursprüng­lichen Bebauung der Auslage von 1714.

Abb. 7: Hochgarage an der Stephanstraße mit der alten Eckbebauung
Abb. 8: Abbruch der Hochgarage. Im Hintergrund die Mühlenstraße

Und hier, in dieser ehemals südwestlichen Ecke der Stadt, ist auch heute noch der Verlauf des Stadtgrabens zu erkennen. Die Höhenunterschiede von knapp einem halben Meter, zu der parallel verlaufenden Mittel- und Breitestraße, ist bemerkens­wert in einer Stadt, die den meisten tisch­eben vorkommt.

Wir gehen, mit Blick auf die Stephankir­che zurück zur Hochstraße, biegen nach rechts ein und stellen nach wenigen Schrit­ten Unregelmäßigkeiten im Straßenraster fest; die Fortsetzung der Hochstraße nach Süden biegt vom bisherigen schnurgera­den Verlauf seit dem Neumarkt ab und die Trasse verbreitert sich an beiden Seiten so, dass ein kleiner dreieckiger Platz an dieser Stelle entstanden ist. In der Rand­zone des mittelalterlichen Stadtkerns kün­digte das rechtwinklige Straßensystem die Neuzeit an. Was aber war hier geschehen?

Die Erklärung ist einfach: Als Vagedes plante, die Stadt mit vier Wällen als Ab­standsfläche zu den umgebenden Gärten auszustatten und die zur Stadt liegenden Flächen vollständig zu bebauen, gab es natürlich schon Kleine­-Leute-­Viertel und an anderen Stellen so etwas wie die bes­sere Wohngegend. Im Norden der Stadt, wo die von der Leyens und andere maß­gebliche Familien vorne an der Straße ih­re Häuser und an der „Hinterstraße“ ihre „Fabriken“ hatten, entstand – wie schon erzählt – der Friedrich-Platz und alles, was dort im Weg war, wurde abgerissen zu Gunsten des rechten Winkels. Hier nun im Süden vor dem Stadttor von 1714 war auch eine kleine Vorstadt entstanden. Es gab eine Pferdetränke und die Waren, die in die Stadt hereingebracht werden soll­ten, mussten für die Zollerhebung aus­geladen werden. Die Fuhrwerke hierfür wurden seitlich der Landstraße, die nach Neuss und weiter nach Köln führte, ab­gestellt und mit Sicherheit gab es in der Folge dort dann auch Gelegenheit, etwas zu essen und vor allem zu trinken. Die Bauten dort, die im Lauf der Jahre ent­standen waren, aufzukaufen, um sie ab­zureißen, hätte sicherlich wieder viel Geld verschlungen. Darauf wurde verzichtet, wie man heute noch an den Grundrissen sehen kann. Das gleiche Bild zeigt sich auch rechter Hand bei der Lindenstraße, dem uralten Weg zur Bauernschaft unter der Linde im Westen der Herrlichkeit Kre­felds, die das Wallgeviert in einem Winkel von 14° schneidet.

Wir stehen nun am Südwall und vor uns liegt die Neusser Straße; heute nicht mehr die beste Gegend, aber anregend und spannend mit ihrem bunten Völkerge­misch. An manchen Häusern, vornehmlich die aus Werkstein, erkennt man: Dies war einmal, auch wegen der Nähe zum Bahn­hof, Krefelds erste Adresse.

Zwei Beispiele verdienen es daher noch, hier hervorgehoben zu werden: Auf der rechten Seite sehen wir die 1889 erbau­te, technisch am besten ausgestattete Badeanstalt Deutschlands (Abb. 9­ – 12). Mit einem Damen­ und einem noch grö­ßeren Herrenbad mit mehr als 300 m² seinerzeit das größte Bad im Deutschen Reich. Mit Brause­ und Wannenbädern in den unterschiedlichsten Größen galt das „Volksbad“ als wichtiges Element, um die hygienischen Verhältnisse in der Groß­stadt zu verbessern. 1877 hatte Krefeld schon gut 65.000 Einwohner und bekam erst da sein erstes Wasserwerk mit ei­nem Wasserturm im Westen der Stadt. Er war ein technisches Bauwerk und ein Baudenkmal erster Güte. Und ein Ab­wasserkanal zum Rhein hier in der Nähe unter der Kanalstraße, die heutige Lewerenzstraße, war dann auch rechtzei­tig fertiggestellt. Da das Stadtbad nicht freistehend errichtet werden konnte, sondern nah bei den Menschen in die be­baute Struktur eingepasst werden sollte, wurde auf Äußerlichkeiten verzichtet und das gesparte Geld steckte man zusätz­lich in den Innenausbau und die Technik. In den 1920er Jahren kam noch inmitten des Häuserblockes ein großes Freibad hinzu. Derzeit bemüht man sich Dank großem ehrenamtlichen Engagement im Badkomplex zu retten, was noch zu ret­ten ist.

Und am Ende der Straße, dort wo sie sich gabelt und neben der Neusser- mit der Gladbacher Straße noch ein zwei­tes Fernziel ins Auge rückt, steht wie ein Wellenbrecher im Strom mit dem 1906 erbauten ehemaligen Kaufhaus Sinn und Co. eins der ältesten und gleichzeitig modernsten Kaufhäuser der Kaiserzeit. Die hochmoderne Eisenkonstruktion er­möglichte über mehrere Obergeschosse geführte Schaufenster sowie ungeteilte große Verkaufsräume. Der Bau mit drei Fassaden besaß im Winkel infolgedessen auch noch einen Lichthof und stand in den 1970ern einem Sanierungsverfahren im Weg. Der Widerstand in der Bevölkerung rettete es zum Teil. Nach einem kontrollier­ten Abriss wurde zumindest die Fassade von polnischen Restauratoren 1984 wie­der vorgebaut und macht auch heute noch einen großartigen Eindruck.

Damit möchte ich den Spaziergang hier beenden. In der Nachbarschaft gibt es noch genug Lokalitäten das Gesehene sacken zu lassen.

Abb. 9: Die Herrenschwimmhalle des Stadtbades, Neusser Straße um 1900
Abb. 10: Freibad Neusser Straße/Gerberstraße vor 1939
Abb. 11: Wannenbad de Lux 2015
Abb. 12: Bade-, Wasch- und Duschkabinen im Jahr 2015

Georg Opdenberg, Jahrgang 1950, lebt in Krefeld. Er war als Landvermesser (Dipl. Ing.), zuletzt im städtischen Fachbereich Vermessungs- und Katasterwesen tätig und ist bekannt durch zahlreiche Veröffentlichungen über Vermessungswesen, Stadtgeschichte und Krefelder Künstler. Er ist außerdem seit 1982 Mitglied der Gemeinschaft Krefelder Künstler e.V.

Georg Opdenberg

Schriftenverzeichnis

BÜCHMANN, Georg: Geflügelte Worte. Der Zitaten­schatz des deutschen Volkes; Berlin 1887

FEINENDEGEN, Reinhard (Verein für Heimatkunde in Krefeld): Barackstil und Kleinhüttenallee; Krefeld 1990

HANGEBRUCH, Dieter: Krefeld unter oranischer und unter preußischer Herrschaft 1600­ – 1794; in: Rein­hard Feinendegen & Hans Vogt (Hrsg.): Krefeld. Die Geschichte der Stadt, Band 2, S. 111­252; Krefeld 2000

KÖPPEN, Ernst: Das war einmal. Zweite Folge alter Krefelder Bilder; Krefeld 1969

KÖPPEN, Ernst: Vom Rhein zum Delaware (Hrsg. Der Oberstadtdirektor); Krefeld 1983

KREMERS, Elisabeth: KREFELD. Ein verlorenes Stadt­bild; Gudensberg-­Gleichen 1994

KRIEDTE, Peter: Vom Leinen zur Seide. Bevölke­rungs­, Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte Krefelds vom Beginn des 17. Jahrhunderts bis 1794; in: Rein­hard Feinendegen & Hans Vogt (Hrsg.): Krefeld. Die Geschichte der Stadt, Band 2, S. 253­375; Krefeld 2000

PEUKES, Gerhard: Reizwort „Hochgarage“ – Sanie­rung und Denkmalschutz in Krefeld am Beispiel der Sammelgarage Stephanstraße aus dem Jahr 1928;
in: Die Heimat, Jg. 56, S. 80­88; Krefeld 1985

POHL, Walfried: Der Krefelder Architekt Karl Busch­hüter; in: Krefelder Studien, Band 4; Krefeld 1987

RÖSEN, Heinrich: Zur Geschichte des Friedrichplat­zes und der Sternstraße in Krefeld – Ein Beitrag zur Geschichte der 6. Stadterweiterung – Vierte Fortset­zung; in: Die Heimat, Jg. 35, S. 11­-39; Krefeld 1963

SCHWANKE, Hans­-Peter: Architekturführer Krefeld; Krefeld 1996

STOCKHAUSEN, Eleonore: Zur Geschichte der jüdi­schen Gemeinde Krefelds im 19. Jahrhundert; in: Krefelder Juden; Krefelder Studien 2; Bonn 1981

WIETZOREK, Paul: KREFELD (ist) im Bild; Horb am Neckar 1996

Anmerkungen

Abbildungen auf der Tafel (Umzeichnung Georg Opdenberg)

Oben links: Wappen der Familie von der Leyen auf dem Floh’schen Haus, Friedrichstraße 27, er­baut 1766 von Michael Leydel. Die Krone kam erst 1787 auf die Wappenkartusche, nachdem die von der Leyen geadelt wurden. Darunter: Carl-­Wilhelm­-Straße 18, ehemals Haus des Deutschen Hand­werks, Kragstein über dem Eingang. Darunter: Das letzte Haus aus der 2. Auslage von 1714, Stephan­straße 65. Darunter: Einziger Bauschmuck in der Fassade des Stadtbades Neusserstraße, erbaut 1889/90 durch Johann Burghart.

Oben Mitte: Krefelder Wappen an der Nordseite der Dionysius Kirche. Die Zahl 1756 erinnert an die Einweihung der ersten Kirche an diesem Ort. Die Zahl 1910 erinnert an die Einweihung nach ei­ner grundlegenden Renovierung und Erweiterung.

Darunter: Preußischer Adler, Eisengusskopie, Ge­denktafel, ursprünglich am Brandenburger­, später auch Hülser Tor genannt, an der Friedrichstraße befestigt, erinnert an die dritte Auslage von 1738.

Darunter: Mahnmal auf dem Platz An der alten Synagoge. Es erinnert an die ursprünglich an der Marktstraße stehende, am 9. November 1938 zer­störte Synagoge. Die sechs Basaltsäulen, erstmals 1973, im Jahr der 600 Jahrfeier aufgestellt, stehen für die sechs Millionen ermordeten europäischen Juden. An diesem Ort wird seither auch an jedem 9. November das Totengebet, Kaddisch, für die Ermor­deten gesprochen.

Unten Mitte-rechts: Balkon­-Mosaik Ostwall 70­ -74. Für den Bau des Hauses wurden 1957 die Ar­chitekten Karl Nothelfer und Johannes Schwingen beauftragt. Der moderne Stahlskelettbau wird noch betont durch die Brüstungsbänder aus veneziani­schen Glasstücken von Curth Georg Becker (1904 ­- 1972), die Szenen aus der industriellen Welt der Seidenweberei zeigen.

Oben rechts: Dante­-Denkmal, 1947 fand in Krefeld
die erste Westdeutsche­-Dante-­Tagung der Deut­schen Dante­-Gesellschaft statt, als Ersatzort für die angestammte Heimat Weimar. Zur Feier des 700.
Geburtstags des Dichters und dem hundertjährigen Bestehen der Deutschen Dante­-Gesellschaft 1965 wurde eine Kopie des überlebensgroßen Denkmals bestellt, das in Mailand steht und von Giannino Cas­tiglioni 1947 geschaffen worden war. Es wurde dann „provisorisch“ als erstes Dante­Denkmal nördlich der Alpen im Hof der Stadtbücherei aufgestellt. Darunter: Graf Hermann von Neuenahr und Moers, führte in der Grafschaft und in Krefeld die Reforma­tion ein. Etwa ab 1564/65 übernahmen die Refor­mierten die alte Dionysius Kirche und die Krefelder Katholiken mussten für die nächsten knapp 200 Jahre mit der alten Klosterkirche St. Johann Baptist gegenüber der Klosterstraße Vorlieb nehmen. Das Standbild des Grafen aus dem Jahr 1935 stammt von dem Bildhauer Kurt Beckmann und entstand zur Neugestaltung des Platzes.

1 Die Teile I und II sind in der HEIMAT, Jg. 94, 2023, S. 57­-74, Teil III in der HEIMAT, Jg. 95, 2024, S. 108­-118 publiziert

2 Rösen 1963, S. 11

3 Kriedte 2000, S. 313

4 Hangebruch 2000, S. 221

5 ebd., S. 177. Der König soll auch irgendwann sinn­gemäß gesagt haben: Die Mennoniten wollen zwar nicht in den Krieg gehen, aber ich muss auch Leute haben die mir Geld schaffen

6 ebd., S. 169

7 Büchmann 1887

8 Stockhausen 1981, S. 28

9 Köppen 1983, S. 46

10 STADTARCHIV: Akten Bestand 4 Nr. 1916 /1744, 16

11 Peukes 1985, S. 85.